Der Krieg in der Ukraine geht unvermindert weiter. Christof Franzen, ehemaliger SRF-Russland-Korrespondent, sagt, was der russische Überfall auf die Ukraine mit ihm macht, wie der Krieg die Russen verändert – und warum er lieber hinter als vor der Kamera steht.
Christof Franzen, erinnern Sie sich an den 24. Februar, als Russland in sein Nachbarland einmarschiert ist?
Ich konnte die ganze Nacht vor der Invasion nicht schlafen. Ich habe in den sozialen Medien die Ereignisse an der ukrainisch-russischen Grenze mitverfolgt. Die Lage hat sich mit jeder Stunde zugespitzt. Da die Russland-Korrespondentin Luzia Tschirky zu jener Zeit in der Ukraine unterwegs war, habe ich der Chefredaktion vorgeschlagen, nach Russland zu fliegen. Einige Stunden später sass ich im Flieger nach Moskau. Ich bin noch nie mit einem so schlechten Gefühl nach Russland gereist.
Wie haben Sie die Russinnen und Russen vor Ort erlebt?
Auf den ersten Blick wirkte alles normal. Man hat den Eindruck, die meisten Menschen tun bis heute so, als sei alles wie bisher. Sie sprechen in der Öffentlichkeit kaum über den Krieg. Man spürt aber, dass etwas nicht stimmt. Eine Protagonistin in meinem Dokumentarfilm «Grenzerfahrung Russland», die Anwältin Mari, hat es sehr treffend ausgedrückt: Die Luft ist so dick, dass man sie mit dem Messer schneiden kann. Ich erlebe selbst mit, wie der Krieg die russische Gesellschaft verändert.
Wie denn?
Auf einmal haben Menschen Angst, etwas zu sagen. 2014 wollten alle mit mir über die Annexion der Krim diskutieren und von mir wissen, wie ich dazu stehe. Jetzt fragt mich fast niemand, was ich vom Krieg in der Ukraine halte. Die Menschen werden von morgens bis abends auf allen Fernsehkanälen mit Propaganda gefüttert. Oppositionelle sprechen von «Gehirnwäsche». Was diese anrichtet, sieht man in dem Dokumentarfilm am Beispiel der «Storchenmutter» Marina. Marina lebt mit ihrem Mann seit 20 Jahren in der russischen Grenzregion zu Estland, wo sie sich um verletzte Störche kümmert. Als wir sie vor dem Krieg besucht haben, hat sie so liebevoll über die Störche erzählt. Sie sagte, die Vögel seien ein Symbol des Friedens und würden keine Grenzen kennen, und dass die Menschen auch so sein sollten.
Als Sie mit ihr nach Kriegsausbruch sprechen, ist sie nicht wiederzuerkennen.
Aus der friedvollen Storchenfrau wurde eine glühende Verfechterin von Putins Angriffskrieg. Dieser Sinneswandel hat mich schockiert. Wer die Kriegspropaganda regelmässig konsumiert, ist verloren.
«Der Ort, an dem ich mich so wohlgefühlt habe, ist nicht mehr derselbe»
Was für ein Land wird Russland nach dem Krieg sein?
Die Russen haben 30 Jahre lang versucht, das Land nach dem Ende der Sowjetunion aufzubauen und mehr Wohlstand zu schaffen, mit allen Schwierigkeiten und Hürden. Jetzt ist vieles kaputt. Wie ein Lego-Turm, den man Schritt für Schritt gebaut hat und ihn mit einem Schlag zerstört. Die vielen Toten auf beiden Seiten, die Kinder, die ohne Väter und Mütter zurückbleiben, die russische Wirtschaft, die den Bach runtergeht. Auch die Propaganda, der die Russen unterzogen werden, lässt sich nicht mehr so einfach rückgängig machen. Russland hat sich auf Jahre alles verbaut – zumindest in der Beziehung zum Westen.
In der letzten Folge des Dokumentarfilms sagen Sie, dass Sie als Korrespondent versuchten, die Gräben zwischen Russland und dem Westen zu verkleinern. Jetzt seien sie tiefer denn je. Was macht das mit Ihnen?
Ich bin enttäuscht. Brückenbauen ist ein grosses Wort, aber ich habe immer versucht, den Menschen in der Schweiz das Land näherzubringen und Verständnis zu schaffen. Das Vertrauen zwischen dem Westen und Russland ist erschüttert. Es wieder aufzubauen, wird sehr schwierig sein.
Könnten Sie sich vorstellen, wieder in Russland zu leben?
Im Moment ist das kein Thema. Der Ort, an dem ich mich einmal so wohlgefühlt habe, ist nicht mehr derselbe. Der journalistische Spielraum ist massiv eingeschränkt. Bei einer kritischen Berichterstattung zum Krieg, den man nicht als einen solchen bezeichnen darf, drohen bis zu 15 Jahre Haft. Kolleginnen und Kollegen, die noch vor Ort sind, beklagen sich, dass man viele Geschichten nicht machen kann, weil die Leute Angst haben, mit ihnen zu reden.
«Ich stehe nicht gerne im Vordergrund»
Wie ist die Idee zu dem Dokumentarfilm entstanden?
Vor drei Jahren hatten wir die Idee, einen Film zum 30. Jahrestag des Zerfalls der Sowjetunion zu machen. Wegen der Coronapandemie mussten wir das Projekt zunächst auf Eis legen. Im Winter 2022 haben wir schliesslich mit den Dreharbeiten begonnen. Der Kriegsausbruch hat das Konzept grundlegend verändert.
Sie sind in dem Dokumentarfilm sehr präsent. War das Absicht?
So war das Konzept der 3Sat-Redaktion. Ich bin bei meinen Reportagen immer mitten im Geschehen, und deshalb oft im Bild. Vom Typ her bin ich aber nicht jemand, der gerne im Vordergrund ist.
Wie war es dann für Sie, all die Jahre als Korrespondent vor der Kamera zu stehen?
Die Live-Schaltungen gehören zur Arbeit eines TV-Korrespondenten dazu, aber es sind künstliche Situationen. Was ich wirklich mag, ist ein Format, bei dem ich viel unterwegs bin und Menschen begegne. Ich beobachte lieber, als dass ich im Zentrum stehe.
Werden Sie auf der Strasse oft angesprochen?
Ab und zu. Die Leute fragen mich dann, wann ich wieder nach Russland gehe. Auf eine Sache werde ich besonders oft angesprochen.
Auf welche?
Es ist eine Szene aus dem Dokumentarfilm «Sibirien total». Auf YouTube hat der Film 1,5 Millionen Aufrufe. Wir waren bei den Rentiernomaden in der Wildnis Sibiriens. In einer Szene sieht man, wie wir mit einem Kettenfahrzeug unterwegs sind. Dieses Bild ist den Zuschauern stark hängen geblieben. Die Leute sagen zu mir bis heute: Sie sind doch der auf dem Fahrzeug in Russland!
Was bleibt Ihnen aus der Zeit als Reporter und Korrespondent in Russland besonders in Erinnerung?
Die vielen interessanten Begegnungen mit Menschen und die Bandbreite an Emotionen. Sehr eindrücklich waren die Gerichtsprozesse gegen russische Aktivistinnen und Aktivisten.
Was hat Sie so beeindruckt?
Man spürte bei den Prozessen im Gerichtssaal, dass etwas nicht richtig ist, dass das Urteil ungerecht und politisch motiviert war. Als die Verurteilten ihr Plädoyer vorgelesen haben, habe ich Gänsehaut bekommen. Die Botschaft lautete immer: Ihr könnt mich verurteilen, aber frei bin ich. Ihr wisst, dass das nicht richtig ist, was ihr macht. Ihr erhaltet dafür vielleicht eine Villa ausserhalb von Moskau, aber ihr seid nicht frei. Das waren sehr eindrückliche Momente. Man konnte die Kraft der Freiheit im Saal förmlich spüren.
Christof Franzen (1971) ist seit 30 Jahren unterwegs in Russland. Von 2008 und 2019 war er Russland-Korrespondent beim Schweizer Fernsehen. Vor Kurzem hat er die dreiteilige SRF-Dok-Serie «Grenzerfahrung Russland» gedreht.