«Wir sind Journalisten, keine Aktivisten»


Pavel Merzlikin hat bis zum Ausbruch des Krieges für das russische Onlineportal Meduza aus Russland berichtet. Dann musste er das Land verlassen. persoenlich.com hat den Journalisten in Zürich getroffen. Ein Gespräch über Zensur und kreative Wege, um Leserinnen in Russland zu erreichen.

Meduza ist das grösste unabhängige russische Onlinemedium. Galina Timtschenko hat das Exilmedium 2014 in Riga, Lettland, gegründet, nachdem sie als Chefredaktorin von Lenta.ru entlassen und durch einen regierungstreuen Journalisten ersetzt wurde. Im April 2021 erklärten die russischen Behörden Meduza zum «ausländischen Agenten». Ab sofort musste auf der Website jeder publizierte Inhalt mit dem Warnhinweis versehen werden, dass Meduza «die Funktion eines ausländischen Agenten ausübt». Die Folge: Werbekunden zogen sich zurück, das Portal verlor seine Einnahmen. Im März 2022 erlebte das Onlineportal einen weiteren Schlag: Die Website wurde in Russland blockiert, wo der Grossteil der Leserinnen und Leser zu Hause ist. Nach dem Ausbruch des Krieges im Februar 2022 haben die letzten Reporter von Meduza Russland verlassen. Einer von ihnen ist Pavel Merzlikin, stellvertretender Chefredaktor des Exilmediums. persoenlich.com hat den Journalisten vor wenigen Tagen in Zürich getroffen.

Pavel Merzlikin, nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine sind Sie aus Russland geflüchtet und arbeiten für Meduza nun aus dem Exil. Wie schwer ist Ihnen die Entscheidung gefallen?
Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine haben die russischen Behörden die Massnahmen zur Einschränkung der Pressefreiheit ein weiteres Mal verschärft. Damit hat sich die Situation für unabhängige Journalisten und Medien in Russland dramatisch verschlechtert. Wer heute in Russland Nachrichten verbreitet, die nicht dem staatlichen Narrativ entsprechen, dem drohen bis zu 15 Jahre Haft. Unter diesen Umständen war es mir und anderen Reportern von Meduza nicht möglich, in Russland weiterzuarbeiten. Denn für uns stand von Anfang an fest, dass wir den russischen Angriffskrieg als einen solchen bezeichnen, und nicht eine «Spezialoperation» nennen würden.

Im März haben die russischen Behörden die Website von Meduza gesperrt. Wer Ihre Artikel jetzt lesen will, muss einen VPN-Dienst benutzen. Haben Sie deswegen Leser in Russland verloren?
Das ist schwer zu sagen. Als der Krieg gerade begonnen hatte, wuchs unser Publikum stark. Beispielsweise hat sich die Zahl der Abonnenten unseres Telegram-Kanals ungefähr verdoppelt – jetzt sind es mehr als eine Million Abonnenten. Dann wurden wir jedoch blockiert und die Zahl ist etwas zurückgegangen. Wie viele User wir tatsächlich verloren haben, lässt sich nicht genau sagen. Als verschiedene Websites und Plattformen in Russland blockiert wurden, begannen Menschen, beispielsweise häufiger Instant Messenger zu verwenden – und das Tracking ist dort nicht so einfach wie auf der Website. Wir suchen ständig nach neuen Wegen, um unsere Leser zu erreichen.

«Wir haben eine News-App entwickelt, die sich nicht blockieren lässt»

Konkret?
Der Messengerdienst Telegram ist für uns ein sehr wichtiger Kanal. Zudem haben wir eine eigene News-App entwickelt, die sich nicht blockieren lässt. Neu gibt es auf unserer Website auch die Möglichkeit, die Artikel in PDFs umzuwandeln. So können User unsere Artikel an ihre Eltern oder Freunde schicken, die kein VPN haben. Wir haben kürzlich auch einen Newsletter lanciert und planen einen weiteren Podcast.

Es ist nicht das erste Mal, dass die russischen Behörden versuchen, die Arbeit von Meduza zu unterbinden. Im April 2021 hat das russische Justizministerium Meduza zum «ausländischen Agenten» erklärt. Welche Folgen hatte das für Ihr Medium?
Wir dachten anfangs, dass es das Ende von Meduza bedeuten würde. Praktisch über Nacht wurden wir zu Staatsfeinden. Unsere Einnahmen aus Werbung gingen verloren. Aber wir haben eine Spendenaktion für Meduza gestartet, und unsere Leser haben ein Wunder vollbracht. Sie haben uns genug Geld gespendet, sodass wir unsere Arbeit fortsetzen konnten.

Das war vor einem Jahr. Wie geht es Meduza heute finanziell?
Leider haben Visa und Mastercard nach Kriegsbeginn ihre eigenen Beschränkungen für russische Karten eingeführt. Deswegen können wir keine Spenden aus Russland mehr erhalten. Aber wir haben eine Spendenaktion für Einwohnerinnen und Einwohner anderer Länder gestartet. So können uns Menschen aus Deutschland, den USA, der Schweiz und jedem anderen Land der Welt unterstützen.

«Wir können Menschen nicht vorschreiben, wie sie denken sollen»

Die russischen Behörden finden immer wieder neue Methoden, um Meduza Steine in den Weg zu legen. Was motiviert sie dennoch weiterzumachen?
So banal es klingt, unsere Leserinnen und Leser sind unsere grösste Motivation. Viele schreiben uns und danken uns für unsere Arbeit. Seit Ausbruch des Krieges erhalten wir Zuspruch in einem Ausmass, wie wir es bisher nicht kannten. Das gibt uns Kraft und Mut, weiterzumachen.

Auf dem Panel am Reporter:innen-Forum sagten Sie, dass manche Leser Meduza «Antipatriotismus» vorwerfen. Sie haben also nicht nur Freunde.
Ja, natürlich gibt es auch solche, die uns nicht mögen. Einige von ihnen sagen zum Beispiel, sie würden die russische Regierung zwar nicht unterstützen, würden aber während des Krieges auf der Seite ihres Landes stehen. Das ist ein typisches Argument. Zum Glück gibt es aber viel mehr Menschen, die uns für unsere Arbeit danken. Wir verbringen nicht viel Zeit damit, uns auf Diskussionen mit Lesern einzulassen, die uns als Verräter bezeichnen. Wir investieren unsere Energie lieber in eine qualitativ hochwertige Berichterstattung über den Krieg.

Ist es Ihnen kein Anliegen, auch diejenigen anzusprechen, die das Narrativ des Kremls glauben? Leserinnen und Leser, die Ihre Meinung und Werte teilen, müssen Sie nicht mehr überzeugen.
Wir sind Journalisten, keine Aktivisten. Das ist meine persönliche Meinung. Wir können Menschen nicht vorschreiben, wie sie denken sollen und sie dazu aufrufen, sich gegen das System aufzulehnen. Unser Ziel ist es, zu informieren und zu sagen, was ist.

Glaubt man Umfragen, dürfte ein Grossteil der Bevölkerung das Narrativ des Kremls nicht infrage stellen.
Ich denke, dass viele Russinnen und Russen die Propaganda glauben, weil es für sie bequem ist, daran zu glauben – sie bauen sich eine Weltsicht zurecht, in der sie ihr bisheriges Leben weiterleben können. Die Wahrheit darüber herauszufinden, was in der Ukraine passiert, ist nicht so schwierig. Aber viele ziehen es vor, sie nicht zu erfahren.

In Europa versuchen Staaten gegen die Propaganda vorzugehen, indem sie die russischen Staatssender RT und Sputnik verbieten. Halten Sie das für richtig?
Ich glaube, dass das Verbot nicht der richtige Weg ist. Ja, die russischen Staatssender verbreiten Propaganda. Ich denke aber, dass es besser wäre zu erklären und zu zeigen, dass dies eben Propaganda ist, anstatt sie zu verbieten. Dass im Westen die Sender blockiert werden, spielt den Propagandisten in die Hände. Sie können jetzt ihren russischen Zuschauern und Lesern sagen, dass sie in Europa blockiert sind, weil die Europäer die «Wahrheit» über den Krieg nicht wissen wollen.

«Viele Ukrainer haben kein Interesse daran, mit uns zu sprechen»

Wie kommt Meduza jetzt noch an verlässliche Informationen aus Russland heran, jetzt wo keine Redaktoren mehr vor Ort sind?
Unsere Quellen kommunizieren weiterhin mit uns. Sie verstehen, dass wir nicht nach Russland zurückkehren und persönlich mit ihnen sprechen können. Darüber hinaus arbeiten wir mit freien Journalisten zusammen. Sie sind sich der Risiken bewusst, die die Arbeit in Russland birgt, aber sie haben sich entschieden, dort zu bleiben. Wir versuchen, sie zu schützen, und arbeiten mit ihnen deshalb anonym zusammen.

Meduza berichtet auch aus der Ukraine über den Krieg. Wie gestaltet sich die Arbeit vor Ort?
Das Label «ausländischer Agent» hilft uns in der Ukraine ein wenig (lacht). Im Ernst, es ist gerade nicht einfach, als russischer Journalist in der Ukraine zu arbeiten. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer haben kein Interesse daran, mit uns zu sprechen. Dass Meduza unabhängig und regimekritisch ist, spielt keine Rolle. Aus ihrer Sicht sind alle Russen für den Krieg mitverantwortlich. Das kann man ihnen auch nicht vorwerfen. Aber natürlich würde ich mir wünschen, dass wir vor Ort mit mehr Menschen sprechen und auch mit ukrainischen Journalisten zusammenarbeiten könnten.

Wie sieht es mit Ihren russischen Kollegen aus? Arbeitet Meduza mit anderen unabhängigen Medien aus Russland zusammen?
Wir versuchen, so weit wie möglich mit anderen Medien zusammenzuarbeiten. Und wir sind sehr glücklich, wenn es funktioniert. Aber leider teilen nicht alle unsere Kollegen diese Ansicht. Einige von ihnen leben weiterhin in dem alten Paradigma, in dem alle Medien miteinander konkurrieren und man ihnen deshalb nicht trauen kann. Dabei berichten wir jetzt alle über dasselbe Thema – den Krieg.

Wir sehen am Beispiel von Meduza, wie schlagartig sich die Situation ändern kann und sich nicht alles im Leben planen lässt. Dennoch: Wo sehen Sie Meduza in sieben Jahren?
Ich hoffe, dass wir weiterhin arbeiten werden – und zwar auf einem qualitativ noch höheren Niveau. Ich stelle nicht gerne Prognosen. Meine grösste Hoffnung für die Zukunft ist, dass der Krieg endet, und zwar mit dem Sieg der Ukraine. Wenn das passiert, kommt alles gut.


Pavel Merzlikin leitet die Abteilung für Sonderberichte bei Meduza. Bis vor einigen Monaten hat er als Sonderkorrespondent, Nachrichtenredaktor und Reporter für Meduza aus Russland berichtet. Jetzt arbeitet er als stellvertretender Chefredaktor mit Sonderkorrespondenten, Investigativjournalisten und anderen Redaktoren zusammen.


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