Der Artikel erschien am 4. Dezember 2020 bei militaeraktuell.at.
Mit dem Ausstieg der USA aus dem Open Skies Treaty, dem Abkommen über militärische Aufklärungsflüge, wird ein weiterer Pfeiler der europäischen Sicherheit zerstört. Die isolationistische Politik Trumps zieht auch nach seiner Abwahl Kreise. Joe Biden wird Mühe haben, die durch Trump verursachten Kollateralschäden zu minimieren. Europa ist einmal mehr gefordert, Verantwortung zu übernehmen.
Während die Welt gerade von einer zweiten Corona-Welle erfasst wird, und nationale Regierungen damit beschäftigt sind, zwischen wirtschaftlichen Schäden eines Lockdowns und dem Schutz von Menschenleben abzuwägen, schreitet die Erosion der europäischen Sicherheitsordnung fast unbemerkt voran. Die Euphorie, die sich in Brüssel nach der Wahl Joe Bidens zum 46. US-Präsidenten breit machte, wird nun getrübt vom Erbe Trumps isolationistischer Außenpolitik. Der von Trump im Mai angekündigte Ausstieg der USA aus dem Vertrag über den offenen Himmel (eng. Open Skies Treaty) ist nach einer Kündigungsfrist von sechs Monaten nun Realität. Nach der Aufkündigung des JCPOA Atomabkommens mit dem Iran, des Pariser Klima-Abkommens und des INF-Vertrags über das Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenwaffen könnte damit ein weiteres multilaterales Abkommen bald Geschichte sein.
Ein Zeichen der Annäherung nach der Ost-West Konfrontation
Der Vertrag über den offenen Himmel wurde 1992 am Rande der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unterzeichnet und ist 2002 in Kraft getreten. Neben den NATO-Staaten – mit Ausnahme von Albanien, Montenegro und Nordmazedonien – zählen Finnland und Schweden sowie Russland, Belarus, die Ukraine, Georgien und Bosnien-Herzegowina zu den 34 Vertragsparteien. Der Vertrag erlaubt den teilnehmenden Staaten gegenseitige militärische Beobachtungsflüge über deren Hoheitsgebiet. Die Flüge werden mit unbewaffneten Militärflugzeugen durchgeführt; die Daten mit den darin montierten zertifizierten Sensoren und Kameras zur Foto-, Infrarot- und Radaraufnahmen gesammelt. Die Erkenntnisse werden allen Vertragsparteien zugänglich gemacht. Die Instrumente ebenso wie die Anzahl jährlich zuzulassender und selbst ausführender Beobachtungsflüge sind vertraglich geregelt. Einmal im Monat tritt die Beratungskommission „Offener Himmel” (Open Skies Consultative Commission) zu Fragen der Umsetzung des Vertrags am Sitz der OSZE in Wien zusammen.
Der Vertrag ist eine wichtige Errungenschaft der Zeit unmittelbar nach dem Kalten Krieg, die einen Baustein zur Vertrauensförderung zwischen den sich ehemals misstrauisch und feindlich gesinnten Machtblöcken legte. Streng gehütete militärisch-technologische Aktivitäten und Potentiale sollten nach dem Ende des Kalten Krieges dem einstmaligen Feind aus dem Luftraum heraus zur Beobachtung freigegeben werden. Die Idee: Transparenz stärkt gegenseitiges Vertrauen. Ronald Reagan’s berühmter Satz, „Vertraue, aber überprüfe” gibt die Essenz der Rüstungskontrolle wieder: Rüstungskontrollverträge können nur dann wirksam sein, wenn man deren Einhaltung überprüfen kann.
Das Grundprinzip ist bis heute das gleiche, verändert hat sich aber das geopolitische Umfeld. Dessen zunehmende Komplexität, die wachsende Anzahl an Krisenherden und Unsicherheiten haben über die letzten zwei Jahrzehnte das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland maßgeblich geprägt. Anders als direkt nach dem Ende des Kalten Krieges, als noch – wenn auch kurzweilig – Hoffnung darauf bestand, eine die transatlantische Gemeinschaft und Russland umfassende kooperative Sicherheitsordnung zu schaffen, stehen sich heute die ehemaligen Supermächte zunehmend misstrauisch gegenüber. Rivalitäten um Einflusszonen, die Ungewissheit in Bezug auf die gegenseitigen Absichten, unterschiedliche politische Interessen und Wertvorstellungen haben die Gräben zwischen beiden Seiten seither vertieft.
Auge um Auge
Washington begründet seinen Ausstieg mit der Vertragsverletzung Moskaus. Ein strittiger Punkt ist die Weigerung Russlands, die Beobachtungsflüge über seinem Territorium näher als in einer Entfernung von zehn Kilometer zu den abtrünnigen Gebieten Georgiens Abchasien und Südossetien zuzulassen. Moskau, das die Unabhängigkeit jener Gebiete anerkennt, beruft sich hierbei auf eine Regelung des Vertrags, welche die Einhaltung einen solchen Abstands an der Grenze zu Nichtvertragsstaaten vorsieht.
Ein weiterer Vorwurf betrifft die von Russland seit 2014 praktizierte Beschränkung der Fluglänge über der russischen Enklave Kaliningrad auf 500km. Washington sieht darin eindeutig den Versuch Moskaus, seine dortigen Aktivitäten zu verschleiern, zumal es sich um ein militärisch strategisches Gebiet handelt, wo nach der Auffassung der NATO atomwaffenfähige Kurzstreckenraketen Typ „Iskander“ stationiert sind.
Als Reaktion auf Moskaus Vorgehen lässt Washington keine russischen Beobachtungsflüge über Hawaii und die anderen pazifischen Inseln mehr zu. Darüber hinaus haben US-Politiker wiederholt den Vorwurf erhoben, Russland nutze die Beobachtungsflüge zur Spionage und Unterminierung der amerikanischen Sicherheit.
Dieser Vorwurf ist jedoch haltlos. Bei russischen Beobachtungsflügen im Rahmen des Vertrags über dem Territorium der USA handelt sich nämlich nicht um ein unerlaubtes Eindringen in den nationalen Luftraum der USA, sondern um eine vertraglich festgelegte und gemeinsam vereinbarte Maßnahme. Hinzu kommt, dass die Sensoren zur Datensammlung zertifiziert sind und vor den Beobachtungsflügen von einem Team vor Ort überprüft werden. Darüber hinaus sind beide Seiten an Bord des Flugzeugs– sowohl russische als auch amerikanische Offiziere.
Das kurzsichtiges „Wie du mir, so ich dir” schadet letztlich den USA selbst, vor allem aber deren europäischen Verbündeten. Abgesehen von dem Wert der Beobachtungsflüge für die europäische Sicherheit im Allgemeinen, sind die Flüge vor allem für jene Staaten von besonderem Wert, die sich mit Russland in einem besonders angespannten Verhältnis befinden, als auch die, die mangels eigener Satellitenaufklärung auf die anderer Vertragsparteien im Rahmen der Beobachtungsflüge zurückgreifen dürfen.
Wird Biden den Vertrag retten?
Mit der Wahl Joe Bidens zum US-Präsidenten besteht zumindest noch Hoffnung, dass der Ausstieg der USA nur temporär ist. Biden wird allemal eine außenpolitische Kursänderung – weg vom Isolationismus und Unilateralismus – ansteuern. Ein erstes sichtbares Zeichen dafür ist die Nominierung von Antony Blinken, einem Verfechter des Multilateralismus und Co-Architekten des Iran-Abkommens, zum Außenminister.
„America is back, you can count on us”, sagte Joe Biden als sich sein Wahlsieg abzuzeichnen begann. Die Botschaft klingt wie ein Bekenntnis Bidens zum globalen Führungsanspruch der USA und lässt vermuten, dass Biden auch eine Rückkehr zu Rüstungskontrollverhandlungen anstreben wird. Eine Revidierung des amerikanischen Austritts aus dem Vertrag über den offenen Himmel wird jedoch nicht von heute auf morgen geschehen und liegt nicht an dem US-Präsidenten allein. Der amerikanische Politikwissenschaftler Steven Pifer sieht eine nicht zu unterschätzende Hürde in der Notwendigkeit, Republikaner im Senat für einen solchen Schritt zu gewinnen.
Alle Augen auf Russland
Vorerst bleibt entscheidend, wie Russland auf den Austritt der USA reagiert und ob es nicht seinerseits den Vertrag verlässt. Ein Verbleib würde aus der Sicht Moskaus jedenfalls ein asymmetrisches Verhältnis zwischen den Vertragsparteien schaffen. Das Argument: Russland selbst könne die USA nicht mehr überfliegen, während die USA weiterhin Informationen aus den Flügen über dem russischen Territorium über ihre NATO-Partner erhalten würden. Die Bedenken Moskaus sind nicht unbegründet, zumal es nicht unüblich ist, dass die USA Informationen mit befreundeten Nachrichtendiensten austauschen.
Um dem Eintreten eines solchen Szenarios entgegenzuwirken, forderte der russische Außenminister Sergei Lawrow kürzlich, dass sich die verbleibenden NATO-Vertragsparteien schriftlich dazu verpflichten, erstens keine Daten aus Beobachtungsflügen über Russland an die USA weiterzugeben, und zweitens russische Beobachtungsflüge über amerikanischen Militärstützpunkten auf dem Territorium europäischer Staaten weiterhin zuzulassen.
Der Vertrag über den offenen Himmel verbietet es bereits, dass Vertragsparteien die aus den Aufklärungsflügen gewonnenen Daten an Nichtmitglieder weitergeben. Es stellt sich also zum einen die Frage, welche andere zusätzliche Form der Verpflichtung Moskau konkret vorschwebt. Zum anderen drängt sich die Frage nach der Durchführbarkeit und Überprüfung einer solchen Verpflichtung auf. Welche Kontrollmechanismen will Moskau anwenden? Und, wie würde es reagieren, sollte es einen Bruch der Vereinbarung feststellen?
Mit dem Ausstieg Russlands würde das Fortbestehen des Vertrags de facto obsolet werden. Die Grundidee des Vertrags, also der Austausch von Informationen zur Transparenz- und Vertrauensförderung zwischen dem Westen und Russland kann nur dann seine Wirkung vollständig entfalten, wenn sowohl Russland als auch die USA ein Teil davon sind.
Wenn die USA und Russland sich streiten, verliert Europa
Der Leidtragende amerikanischer kurzsichtiger Entscheidungen ist wieder einmal Europa. Das Interesse der Europäer an dem Vertrag ist groß; nicht so groß ist allerdings deren Chance, Russland vom Verbleib im Vertrag zu überzeugen. Vor allem die Möglichkeiten des in Bezug auf Russland sonst vermittelnden Deutschlands sind zum jetzigen Zeitpunkt beschränkt. Seit der Vergiftung Nawalnys hat das deutsch-russische Verhältnis einen neuen Tiefpunkt erreicht.
Wo Europa dennoch einen Versuch unternehmen sollte, eine russische Entscheidung hinauszuzögern, ist die OSZE. Im kommenden Jahr übernimmt Schweden den Vorsitz. Abgesehen von der Beobachtungskommission Open Skies Consultative Commission und dem Forum für Sicherheitskooperation, wo Fragen zum Vertrag über den Offenen Himmel diskutiert werden, könnte Schweden eine breitere Debatte zu vertrauensbildenden Maßnahmen im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland anstoßen. Als Nichtmitglied der NATO blickt Schweden mit zunehmender Sorge auf die voranschreitende Aufrüstung Russland und sollte deshalb an dem Erhalt des Vertrags besonders interessiert sein.
Moskaus subjektive Auslegung des Vertrags zu eigenen Gunsten ist nicht von der Hand zu weisen. Der Ausstieg der USA ist jedoch keine adäquate Antwort auf Moskaus Vorgehen. Vielmehr sollte durch Kompromisslösungen ein Weg gefunden werden, die strittigen Punkte zu beseitigen. Mit ihrem Ausstieg werden die USA Russland nicht dazu bewegen, den Vertrag zu achten. Vielmehr besteht das Risiko, dass Russland spiegelbildlich reagiert, und der Vertrag letztlich zusammenfällt. Ein Ende des Vertrags würde nicht nur den schon ohnehin stark belasteten Beziehungen zwischen dem Westen und Russland einen weiteren Stoß versetzen, sondern auch einen hart erkämpften Meilenstein der europäischen Sicherheitsarchitektur aufs Spiel setzen.
Der Vertrag über den offenen Himmel bleibt bis heute eines der wichtigsten Abkommen zur europäischen Sicherheit und Stabilität und eines der letzten verbliebenen Instrumente der Rüstungskontrolle im euro-atlantischen Raum. Sein Nutzen liegt auf der Hand: Das aus den Kontrollflügen gewonnene Wissen um gegenseitige militärische Aktivitäten und Potenziale dient dazu, den Stand der Dinge aus erster Hand zu beurteilen, und sicherzustellen, dass die restlichen Vertragsparteien auch tatsächlich die Rüstungskontrollvereinbarungen umsetzen. Eine adäquate Beurteilung der Lage in Krisensituationen hilft dabei, Fehlkalkulationen zu vermeiden, die letztlich zu einer militärischen Auseinandersetzung führen könnten. Besonders in den letzten Jahren vor dem Hintergrund zunehmender Spannungen rund um Russlands Agieren hat sich der OH-Vertrag als wichtiges Instrument des Krisenmanagements erwiesen. So haben etwa nach dem Vorfall in der Straße von Kertsch im Dezember 2018 Vertreter aus den USA, Deutschland, Kanada, der Ukraine und anderen Ländern Flüge zur Beobachtung der Lage durchgeführt.
Der Mehrwert des Vertrags liegt aber nicht allein in der Gewinnung militärischer Daten. Die gemeinsamen Beobachtungsflüge schaffen zum einen Transparenz und minimieren so das Eskalationspotential der ohnehin stark angespannten und von Misstrauen geprägten Beziehungen zwischen dem Westen und Russland. Zum anderen sind sie eine der letzten verbliebenen Formen der direkten Kooperation zwischen den beiden Seiten, als bei den Flügen Rüstungskontrollexperten sowohl des observierenden als auch des observierten Staates teilnehmen.
Schlafwandelnd am Abgrund
Es erscheint unlogisch, dass gerade in Zeiten zunehmender globaler Bedrohungen und Herausforderungen Kooperationsmechanismen abgebaut und multilaterale Verträge aufgekündigt werden. Der Austritt der USA aus dem Vertrag ist daher eine strategische Fehlentscheidung. Abgesehen von den klaren Vorteilen des Vertrags für die europäische Sicherheit und die zwischenstaatlichen politischen und militärischen Beziehungen, senden die USA mit ihrem Austritt ein falsches Signal und riskieren einen Dominoeffekt für die gesamte Rüstungskontrolle. Im Februar 2021 läuft der New START Vertrag aus, der die Nukleararsenale der USA und Russlands auf je 800 Trägersysteme und je 1.550 einsatzbereite Atomsprengköpfe reduziert. Wenn die USA demonstrativ Desinteresse an der Rüstungskontrolle an den Tag legen, ist nicht zu erwarten, dass die russische Seite sich mit vollem Elan für die Verlängerung des New START einsetzen wird.
Der Austritt der USA sollte als Anlass für eine breitere Debatte über sicherheitspolitische Zukunftsfragen genutzt werden. Denn auch wenn der Vertrag noch gerettet wird, bleiben viele grundlegende Fragen und Differenzen in Bezug auf die europäische Sicherheit und die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland ungeklärt.
Die Krise rund um den Vertrag ist im Grunde nämlich ein Zeichen eines viel tiefer liegenden Problems; ein Symptom einer schweren Erkrankung, die fast unbemerkt und oft schleichend den Organismus befällt. Die Symptome werden anfangs vom Erkrankten kaum wahrgenommen oder gar bewusst verdrängt, bis sie so bemerkbar und belastend ist, dass es sie zu ignorieren kaum noch möglich ist. In diesem Stadium ist sie auch schon so weit fortgeschritten ist, dass mehr als die Minderung der Symptome nicht möglich ist. Präventive Maßnahmen hätten die Krankheit möglicherweise erst gar nicht ausbrechen lassen. Ähnlich ist es mit der Rüstungskontrolle. Auch hier gilt: lieber vorbeugen statt heilen. Es müssen laufend Gespräche zwischen den Vertragsparteien stattfinden, strittige Punkte müssen thematisiert und beseitigt werden, Transparenz- und Verifikationsmaßnahmen müssen modernisiert und implementiert werden. All das schafft Vertrauen und Berechenbarkeit.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass jene, die den Vertrag initiiert haben, ihn heute verlassen. 1955 stieß US-Präsident Dwight D. Eisenhower mit seinem Vorschlag von einer „gegenseitigen Luftbeobachtung” auf die ablehnende Haltung des sowjetischen Generalsekretärs Nikita Chruschtschows, der dahinter nichts weiter als einen amerikanischen Spionageversuch vermutete. Letztlich ließ sich Michail Gorbatschow von George H.W. Bush, der die Idee 1989 wiederbelebte, doch von den Vorteilen eines solchen Vorhabens überzeugen. Wenn gilt, dass Geschichte sich wiederholt, bleibt ein Schimmer Hoffnung, dass auch heute der Skeptiker – diesmal die USA – sich von der Bedeutung des Vertrags überzeugen lässt.